Heimatland Riesengebirge – ein Blick zurück nach vorn

Heimatland Riesengebirge – ein Blick zurück nach vorn
Die Vergangenheit hinterlässt Spuren – in der Landschaft, in den Erinnerungen, in uns. Die fotografische Arbeit ‚Heimatland Riesengebirge – ein Blick zurück nach vorn‘ ist eine vielschichtige Auseinandersetzung mit Familiengeschichte, Heimatverlust und der Frage, wie Kriege über Generationen hinweg bis heute nachwirken. Doch sie ist auch der Versuch, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen – als Voraussetzung dafür, frei in die Zukunft blicken zu können.

Von dem Bahnhof in Friedland (heute Mieroszów) im Riesengebirge wurde 1946 meine Großmutter Liesbeth Giera mit ihren beiden Töchtern Renate (6 Jahre) und Marlis (4 Jahre) in Güterwaggons verladen und aus ihrem Heimatland vertrieben.

2024 erzählte mir meine Tante, dass ihr Großvater Gottfried Täuber ihnen noch ein Lunchpaket in den Waggon reichte. Niemand wusste, wo es hingeht, niemand wusste, wie lange sie unterwegs sein würden. Nur zum Entlausen oder manchmal auch für eine heiße Suppe wurde ein kurzer Stopp an einem Bahnhof eingelegt. Tagelang waren sie unterwegs. Irgendwann kamen sie nach Lehre und von dort aus wurden sie auf die umliegenden Dörfer verteilt. So sind sie nach Schandelah, ihrer neuen Heimat und meinem späteren Geburtsort, gekommen.

Bilder aus den Erzählungen der Vertreibung brannten sich bei mir ein. Vorbeirauschende Güterzüge, immer verbunden mit einem unbehaglichen Gefühl.

Anfangs fanden sie ein Zimmer bei einer Familie in der Hindenburgstraße. Meine Großmutter hatte Glück, sie geriet an freundliche Menschen, die sogar die beiden Kinder betreuten, wenn sie für den Lebensunterhalt auf dem Feld arbeitete. Das war nicht selbstverständlich, hatten sie doch auch nicht viel in diesen Zeiten. ‚Tante‘ Lehne gehörte später irgendwie auch zur Familie dazu.

Mein Großvater Gerhard Giera war derweil in Norwegen in englischer Gefangenschaft.

Klara und Gottfried Täuber, meine Urgroßeltern, mussten bleiben. Mein Urgroßvater arbeitete in dem Steinkohlebergwerk in Waldenburg (heute Wałbrzych). Die Bergleute wurden dringend gebraucht. So wurde die Familie vorerst auseinandergerissen.

Im Jahr 2024 führte mich meine Spurensuche in die Heimat meiner Vorfahren nach Friedland, Niederschlesien. Dort entfaltete sich vor meinen Augen eine atemberaubende Landschaft: scheinbar endlose Wiesen, eingebettet in die Berge des Riesengebirges.

Die Spurensuche beginnt.

Auch in dieser Arbeit habe ich die Zeitebenen miteinander verwoben – die Berge, die Wiesen, den Bahnhof und vertraute Orte in und um Friedland, überlagert mit Bildern aus den alten Fotoalben meiner Vorfahren.

Meine Großmutter schrieb später in ihr Tagebuch, dass die Jahre in Friedland die glücklichste Zeit ihres Lebens war.

Dann kamen Krieg und Vertreibung.

Als ich die alte Weberei in der meine Urgroßmutter früher gearbeitet hat fand, sprach ich mit einem Mitarbeiter einer Metallbaufirma, die heute dort ansässig ist. Er erinnerte sich noch genau daran wo einst die alten Webstühle standen – ein Hauch Vergangenheit wurde plötzlich spürbar.

Von Friedland aus fuhr mein Urgroßvater täglich mit dem Zug nach Waldenburg, um in den Tiefen des Schachts zu arbeiten. Der Steinkohleabbau war sein tägliches Brot – eine harte, entbehrungsreiche Arbeit. Trotz schwerer Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg, einem Lungendurchschuss und Malaria, hielt er durch und verbrachte noch 30 Jahre unter Tage.

Ein Postkartenfoto aus dem Krankenhaus in Waldenburg von Gottfried an Klara, geschrieben am 30.07.1929. Der Bahnhof in Waldenburg (heute Wałbrzych). Es hängen immer noch deutsche Plakate in einer Ausstellung im Innenbereich des Bahnhofs. Als ich zum Bahnsteig kam, stand dort ein sehr langer Güterzug. Er fuhr an. Nach einigen Metern stoppte er wieder mit einem sehr grellen, metallischen Quietschen.

Als wäre er nur kurz für mich angefahren.

Klara und Gottfried Täuber. Das Haus in Göhlenau 48 in Friedland existierte nicht mehr. An seiner Stelle stand ein neues Gebäude. Ich schlenderte den Weg entlang, der an dem Grundstück vorbeiführte, als mein Blick plötzlich auf ein Haus fiel. Ein schmaler Weg schlängelte sich links am Gebäude nach oben vorbei. In diesem Moment blieb ich wie angewurzelt stehen.

Ein Déjà-vu durchströmte mich – intensiver, als ich es je zuvor erlebt hatte. Ich kannte diesen Ort, dieses Gebäude, diesen Weg. Alles erschien mir seltsam vertraut.

Nach intensiver Recherche über die Lebensorte und Arbeitsstätten meiner Vorfahren stand ich gegen Ende meiner Reise auf einer Wiese mitten im Riesengebirge – ein Ort, an dem sich meine Geschichte auf eine unerklärliche Weise verdichtete.

In diesem Moment durchströmte mich ein unerwartetes Gefühl der Versöhnung. Ich dachte daran, dass hier inzwischen ganz andere Menschen leben. Doch vielleicht empfinden sie dasselbe Glück, das einst meine Großmutter an diesem Ort empfunden hat.

Ich weiß, dass meine Großmutter auch einmal in die alte Heimat gefahren ist und sehr enttäuscht wiederkam, weil die Orte die ihr vertraut waren, nicht mehr vorhanden waren.

1947 kam mein Großvater der in Norwegen stationiert war aus englischer Gefangenschaft nach Schandelah zurück zu seiner Familie.

In den 50er Jahren sind meine Urgroßeltern aus Friedland zu ihren Kindern und Enkeln nach Schandelah gezogen und verbrachten dort den Rest ihres Lebens. So waren sie in ihrer neuen Heimat wieder alle vereint.

1965 bin ich im Hause meiner Großeltern geboren. In der Hindenburgstraße 3, ein paar Häuser entfernt, von dem damaligen Zimmer im Haus von ‚Tante‘ Lene. In Schandelah lebe ich noch heute.

Es gibt hier einen Bahnhof.

Die Güterzüge, die für mich immer mit der Vertreibung meiner Familie verbunden waren, rauschen nun anders an mir vorbei.

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